Die Steile Wand von Martha und Heinrich Frickenschmidt
Sie waren in der Nachkriegszeit die Sensation auf den Festplätzen – rasant, ohrenbetäubend und tollkühn präsentierten die Motorradakrobaten an der Steilwand ihre wagemutigen Kunststücke, dass ihrem Publikum der Atem stockte. Sensationsdarsteller, kuriose und illusionistische Darbietungen waren bis in die 60er Jahre auf den Volksfestplätzen das Highlight und zogen die Menschen magisch an. Sei es die Frau ohne Oberkörper, Messerwerfer, waghalsige, akrobatische Kunststücke oder eben mutige Überholungsmanöver an der Steilen Wand.

Die Geschichte des Steilwandfahrens entstand in den USA. In Deutschland fand diese Jahrmarktssensation aus den USA nur in den tönenden Wochenschauen und illustrierten Wochenblättern statt. Was sich schlagartig änderte, als 1930 der amerikanische Motorradartist Captain Bob Berry im Berliner Luna Park den Holzkessel rauf und runter sauste. Der Schausteller Arthur
Franke kam, sah, kapierte, kopierte und sorgte zusammen mit weiteren Nachahmern auf dem Oktoberfest für eine kleine Wies’n- Revolution. Die von den Münchner Neuesten Nachrichten am 21. September 1930 mit bajuwarischer Finesse vermeldet wurde: »Motorräder fuhren an der Innenwand eines wie ein großer Maßkrug aussehenden Holzbaus in Spiralen von unten nach oben, also buchstäblich die Wand hinauf, mit einer Geschwindigkeit bis zu 100 Stundenkilometer.« Von diesem denkwürdigen Auftritt an schossen die runden Bretterbuden wie Pilze aus dem Boden.
Die Leute konnten nicht genug bekommen von diesem Kesseltreiben. Doch nicht jeder glaubte, daß alles mit rechten Dingen zugehe, wenn die Artisten wundersamerweise die Wände hoch- und runterfuhren. Das einfache physikalische Gesetz von der Fliehkraft, welche die Maschinen gegen die Bretter preßt, wollte nicht jedem einleuchten. Einige erfindungsreiche Köpfe vermuteten sogar, daß Magneten oder ein ganz spezieller Klebstoff den Fahrern und ihren Maschinen bei dem vertikalen Gewerbe zur horizontalen Stellung verhelfe. Der Weltwunder waren auf einmal acht. Wer eine solch zugkräftige Attraktion besaß, hatte finanziell erst mal ausgesorgt. Andrang und Interesse waren groß, Arbeitskräfte während der schweren Wirtschaftskrise billig zu haben. Gefragt war nur eine gehörige Portion Mut – einziges Einstellungskriterium für diesen Knochenjob.

1933 hielt die Steil- und Todeswand auch in Deutschland Einzug und zählte zu den beliebtesten Schaugeschäften auf den deutschen Volksfestplätzen. Steilwandfahrer waren echte Typen, die mit ihren lärmenden Maschinen artistische Kunststücke auf den Festplätzen der Nachkriegszeit vorführten. Das beliebteste Motorrad war die Indian Scout, eine schwere, aber dennoch wendige Maschine aus den 20er Jahren, die aufgrund ihrer Robustheit, des kurzen Radstandes und des tiefen Schwerpunkts auch heute noch gerne für die Trick- und Akrobatikfahrten verwendet wird. Nach wie vor zieht die Show der Steilwandfahrt ihr Publikum in ihren Bann, begeistert mit legendären Motorrädern und vielen Exponaten und Erinnerungen an die einstigen Pioniere der Steilwandfahrt.
Zwei davon waren Martha und Heinrich, genannt Heinz, Frickenschmidt, beide im Jahr 1911 in Osnabrück geboren. Martha und Heinrich kannten sich von Kindesbeinen an. Beide waren begeisterte Motorradfahrer und so waren sie von der Steilwand, die sie in den 30er Jahren bei einem Jahrmarktsbesuch entdeckten, fasziniert. Sie folgten ihrer Leidenschaft und begannen schon 1935 selbst die Jahrmärkte als Steilwandfahrer zu bereisen und die Menschen mit waghalsigen Kunststücken auf ihren Motorrädern zu begeistern.
1935 haben wir angefangen, erinnert sich die Artistin Martha Frickenschmidt. Ich bin zuerst nur vorn auf dem Tank mitgefahren, damit ich das Motorradfahren an der Wand lernte- die Balance, den Druck und die ganze Eigenart. Dann habe ich mit der Begrüßungsfahrt die Show begonnen, sogar freihändig und mit verbundenen Augen. Später dann das Überholungsrennen, ich mit der 750er Indian, mein Mann mit der 600er. Danach waren seine Kunstfahrten dran. Im harten Geschäft an der Wand brachten es nur wenige Frauen zu Ruhm und Ehren.
Schnell wuchs ihr Erfolg: „Die Frickenschmidts – waghalsig mit Auto und Motorrad an der Steilen Wand!“ Sie waren die Sensation, ihre Show war Aufhänger auf den Volksfestplakaten einer jeden Veranstaltung. Da zu dieser Zeit die Konkurrenz unter den Schaudarstellungen riesig war, ließen sich die Frickenschmidts auch besondere Nervenkitzel einfallen, so wurde auf der Dresdner Vogelwiese z.B. das erste Überholungsrennen präsentiert. Nach einem erfolgreichen Auftritt, bei dem Martha Frickenschmidt die legendäre 3,5 Zentner schwere 750er „Indian“ fuhr und als Höhepunkt eine schwarze Binde, durch den Fahrtwind gehalten, vor ihre Augen presst, galt Martha als „tollkühnste Frau Deutschlands“. Gefahren wurden in dieser Zeit 500er, 600er und 750er Motorräder des Fabrikats „Indian Scout“ die amerikanische Polizeimaschinen der Baujahre 1923 -28.

Neben ihren Fahrkünsten an der Steilwand übernahm Martha auch die Position des Rekommandeurs: „Hereinspaziert, meine Damen und Herren, sie stehen hier vor Deutschlands größter Motorradschau!!!“, schallte es aus dem Mikrofon. Motoren knallten, Benzinschwaden hingen in der Luft. Mit knatternden Motorgeräuschen wiesen die Akrobaten auf den unmittelbar bevorstehenden Start der Show hin. 1935 gingen Martha und Heinrich Frickenschmidt in die Selbständigkeit und nahmen 1938 Grete Irrgang mit in die Familie . Sie wurde schnell die gute Seele des Geschäfts, und blieb für immer.
Grete Irrgang starb 2020 im Alter von fast 100 Jahren und wurde im Familiengrab der Familie Frickenschmidt beigesetzt.
Einen weiteren Meilenstein in der Karriere der Steilwandfahrt legte Heinrich Frickenschmidt mit einem DKW Sportwagen.
Dazu wurde eine Frontantriebs-DKW zur Steilwandfahrt in Chemnitz umgebaut. Die damalige Auto-Union spendierte dazu eine verbesserte Vorderachse und verstärkte Blattfedern. Die optisch sehr sportlichen Speichenfelgen mussten gegen Scheibenfelgen getauscht werden, da die Speichenfelgen der enormen Belastung der Steilwandfahrt nicht standhielten.
Nach einem Unfall Mitte der 30er Jahre in Freienwalde, baute das ortsansässige Autohaus Gundermann aus Sonneberg in Thüringen, die Karosserie des verunglückten Wagens wieder auf. Der DKW besaß übrigens auch eine Straßenzulassung, so konnte der Wagen jederzeit zum nächsten Veranstaltungsort oder auch zum jeweiligen Bahntransport gefahren werden. Zur Befahrung auf der Straße musste lediglich ein wenig Luft aus den Reifen abgelassen werden.
1937 heiratete Heinrich Frickenschmidt seine Martha.1939 kam Sohn Heinz auf die Welt.
Es gab noch einen 2. Sportwagen, einen Dixi der von der Firma Ihle gebaut wurde und mit auf der Parade stand.

Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wurde Heinrich Frickenschmidt zur Wehrmacht eingezogen und reiste als Offiziersfahrer durch ganz Europa.
Alle Fahrzeuge und die Steilwand wurden in Osnabrück auf dem elterlichen Grundstück eingelagert. Martha Frickenschmidt lebte mit Sohn Heinz bis zum Kriegsende im Wohnwagen auf dem Land. Obwohl das Wohnhaus und die Lagerhalle die Luftangriffe wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden hatten, waren der DKW Rennwagen und auch die drei speziell für die Steilwand umgebauten Indian Motorräder verschwunden. Während die drei Motorräder – mit leerem Tank – wieder auftauchten, blieb der DKW leider verschollen und so versuchte der inzwischen vom Krieg heimgekehrte Heinrich mit einem von einer Osnabrücker Karosseriefirma zu einem VW Rennwagen umgebauten Wehrmacht-Kühlwagen wieder an die Wand zu fahren. Nach vielen gescheiterten Versuchen folgte der Einbau eines Flugzeug-Vergaser-Modells, die Steilwand wurde verstärkt und schließlich glückte die Fahrt, rückwärts angesetzt und mit viel Schwung, in eine erneute Steilwand karriere.
Als dritter Fahrer wurde Heinz Meiners, ein berühmter Steilwandfahrer, engagiert. Sie waren das „Trio Infernale“, mit drei schweren Maschinen gleichzeitig boten sie den Zuschauern eine wilde Jagd.
Nach vielen erfolgreichen Jahren entschloss sich das Paar 1952, nach der Geburt ihres zweiten Sohnes, die Steilwandkarriere an den Nagel zu hängen. Zu viele Unfälle mit tödlichem Ausgang führten zu diesem Entschluss. Die Steilwand und alle Fahrzeuge wurden daraufhin nach Südamerika verkauft.
Martha und Heinrich Frickenschmidt blieben jedoch der Schaustellerei treu. Sie bereisten Deutschlands Plätze zunächst mit der Motorrollerbahn die 1950 schon mit Betrieb genommen wurde. Die Motorroller waren gerade in Mode gekommen. Cityfix war die Marke der Roller die in Osnabrück gebaut wurden. Ab 1952 Jahren dann die mehrfache Erweiterung der Motorrollerbahn und Bestückung mit Ihle Benzinautos, zu einer großen Avus- Autorennbahn. Danach mit den Flugkarussellen „Vampir“, „Titan“ und „Mirage-Phantom“.

Der VW Rennwagen war durch den Verkauf nach Südamerika nicht mehr aufgetaucht.
Umso überraschter war Heinz Frickenschmidt als sich fast 70 Jahre später Bernardo Heller aus Brasilien für die Geschichte interessierte. Der Oldtimer-Liebhaber fand per Zufall einen merkwürdigen VW, mit unbestimmter Herkunft, unter einer beeindruckenden Fahrzeugsammlung von André Beldi aus Sao Paulo. Heller startete Nachforschungen um das historische Fahrzeug, kam schließlich auf Anton Gierens, einen deutschen Steilwandfahrer, der unter dem Namen „Captain Tony“ bekannt ist und Mitte der 50er Jahre nach Brasilien kam. Bis Mitte der 70er Jahre befuhr dieser mit seinen Motorrädern und dem mysteriösen VW Steilwände in ganz Brasilien. Heller forschte weiter und kam schließlich auf den Schaustellerverband Weser-Ems, auf dessen Webseite historische Fotos des Steilwandfahrers Heinrich Frickenschmidt mit eben diesem Fahrzeug zu sehen waren. Heller schrieb sofort Heinz Frickenschmidt an, womit für Heinz Frickenschmidt die Zeitreise in seine frühe Kindheit und das Leben seiner Eltern begann. Zum 80. Geburtstag überraschten ihn seine Kinder mit einer Reise nach Südamerika, mit einem Besuch bei André Bellis Fahrzeugsammlung. In Begleitung seiner Tochter und seines Schwiegersohnes, gefolgt von einem Filmteam und einem Reporter eines VW-Fachmagazins – und natürlich mit vielen Erinnerungen, Berichten, Fotos und sämtlichen Film- und Tonaufnahmen seiner Eltern im Gepäck, machte sich die Familie auf den Weg zu dem historischen Familienstück.

Von Bernardo Heller herzlich in Empfang genommen, ging es zur Ausstellung von André Belli. Ein unbeschreiblicher historischer Moment für die Familie und ganz besonders Heinz Frickenschmidt, der den Wagen vor 68 Jahren zum letzten Mal sah. Den DKW fand die Familie Originalgetreu in Sao Paulo wieder – Erinnerungen an seine Kindheit, als er den Wagen als Beifahrer mit seinem Vater in den Ferien oder wenn die Steilwand in Osnabrück aufgebaut war, fahren durfte, wurden wach. Auch er hätte gerne nach seiner Schulausbildung den Beruf als Artist erlernt, jedoch gaben seine Eltern die Steilwandfahrt nach der Geburt seines Bruders Michael 1952, aufgrund mehrerer tödlicher Unfälle, auf. So reiste Heinz Frickenschmidt jr. mit seinen Eltern zunächst mit einer Benzin Autorennbahn bis er mit seiner Frau Helga 1966 mit dem Flugzeugkarussell „Titan“ in die Selbständigkeit ging. 1974 kam der „Flamenco“ dazu.

Sein Vater Heinrich verstarb 1997 mit 86 Jahren, kurz nach der Diamantenen Hochzeit, seine Mutter Martha 10 Jahre später kurz vor ihrem 96. Geburtstag.
Eines ist jedoch ganz klar, die Zeitreise in die Geschichte seiner Eltern war für Heinz Frickenschmidt ein unbeschreibliches Erlebnis. Und die Fahrt mit seiner Tochter in dem Original mit „Sensationen an der Autosteilwand – Heinz Frickenschmidt Osnabrück“
beschrifteten und wieder hergerichteten VW unvergesslich.